Li Shangyins Persönlichkeit


LSY hatte einen widerspenstigen und eigensinnigen Charakter, verbunden jedoch mit fester moralischen Haltung. Im letzten Drittel seines Lebens soll zu diesen auch noch Verbitterung und eine immer schwächer werdende psychische Beschaffenheit dazugekommen sein.
In seinen jungen Jahren war er ehrgeizig und fühlte sich bei dem kleinsten Mißerfolg benachteiligt, hatte aber Ausdauer und vergaß alle Vernunft, wenn es darum ging, seine Idee zu verwirklichen, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Dabei besaß er auch große Rücksichtslosigkeit. (Es genügt, nur an die Umstände seiner Eheschließung zu denken.)
Zwei verhängnisvolle Eigenschaften, Eigensinnigkeit und ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl verbanden sich in ihm mit einem blinden Mut zum Widerstand. Als er zum Kreisrichter in Hongnong ernannt wurde, war er bereit, seine Bitte zur Beurlaubung dem Präfekten zu überreichen, um in die Hauptstadt zurückkehren zu dürfen.
LSY diente in niedrigem Posten, aber er tat es, ohne seine Ehre zu verwirken; er war standhaft und freimütig, nicht unterwürfig und kriecherisch. Er war fähig, selbstständig zu denken, auch wenn er letzendlich seinen Wille nicht durchsetzen konnte. Aber er war imstande, wenigstens seine innere Freiheit zu zeigen, indem er diese 28 Zeichen niederschrieb, das Beispiel von Bian He hochhob und zum Gehen bereit war.
Dieser Mut ernährt sich bei ihm von der gemeinsamer Quelle wie seine Wut, worin sich seine verstauten Emotionen entladen. Er fühlt sich auch mit Ni Heng (von Beinamen Zhengping) verbunden, vor dem nichts heilig war.
"Alle Würdenträger haben Ni Heng verabscheut", schreibt Du Fu. LSY schien in Ni Hengs Charakter trotzdem etwas gefunden zu haben, was er symphatisch empfand, vielleicht dessen Wagemut, sich der Obrigkeit zu widersetzen. Deshalb wünschte er wohl die Existenz eines Ni Zhengpings, mit dem er in diesem Gedicht wahrscheinlich Liu Fen meint.
Trotz dieser Eigensinnigkeit ist LSY innerlich eher labil, unsicher und nachdenklich:

                                     有感

                           中路因循我有長
                           古來才命兩相妨
                           勸君莫強安蛇足
                           一醆芳醪不得嘗

                           Was mich bewegt
   Auf halbem Wege zu zögern ist meine Stärke.
   Von ewig her verhindern einander die zwei: Talent und Schicksal.
   Ich mahne Dich, setze keine Beine der Schlange mit aller Gewalt hinzu
   (sonst) bekommst Du kein Schälchen würzigen Wein zu kosten.

Ihm tut es weh, daß ein begabter Mann Rückschläge und Mißerfolge erleiden muß, während dem Unbegabten gutes Schicksal zuteil wird. Deshalb versucht er, sich nach der jeweiligen Situation zu richten, sich den verschiedenen Verhältnissen anzupassen und darauf zu verzichten, seine Ansprüche geltend zu machen. Man sollte lediglich die Pflichten erfüllen, ohne seine Grenzen zu überschreiten. Aber diese verzweifelten Worte kommen nicht vom Herzen, sondern es ist eher eine spöttische Rede, die das Gegenteil besagen soll.
Viel resignierter schreibt er zehn Jahre danach (Jiao’er shi, 849):
"Ich Dein Vater habe früher gerne in Büchern studiert und mich gar sehr bemüht, eigene litterarische Erzeugnisse hervorzubringen. (Verse 55-56)
Du musst... vorsichtig sein und ja nicht Deinen Vater nachzuahmen suchen; wenn Du studierst, trachte nicht danach als erster oder zweiter die Prüfung zu bestehen. (59-60)
(Du mein Sohn musst... schnell groß werden und dann... [Vers 69]) wirst Du zum Grafen eines Gebietes von zehntausend Seelen ernannt werden und brauchst nicht etwa einem bestimmten Klassiker Dein lebenslanges Studium zu widmen." (71-72, in Zachs Übersetzung)

In Wirklichkeit wünschte LSY sich nichts sehnlichster als von den Herrschenden akzeptiert und gebraucht zu werden. Da er aber (wie er war) nur auf Ablehnung stieß, lehnte er auch die Welt (wie sie war) ab.
Tao Yuanming verkörpert das Ideal eines abgeschieden lebenden Gelehrten, der - im Gegensatz zu Fan Li - sich nicht erst nach einer erfolgreichen Amtskarriere von der Welt zurückzog, sondern das Amt vornherein strikt verwarf. Solche Denkweise war für LSY nicht charakteristisch. Daß er sich dennoch so trotzig äußert, ist nur mit der tiefen Enttäuschung über sein Amt in Hongnong zu erklären. Diese Ablehnung ist im obigen Gedicht eindeutig scheinbar. Die Amtskarriere und die Macht übten in Wirklichkeit auf LSY eine große Anziehungskraft aus:

                          永憶江湖歸白髪
                          欲迴天地入扁舟

     Dauernd denke ich an die Flüsse und Seen, 
     zu denen ich mit weißen Haaren zurückkehren werde,
     (aber) ich möchte (erst) Himmel und Erde in Bewegung setzen, 
     bevor ich das kleine Boot besteige -

schreibt er im Halspaar des Anding chenglou 安定城樓. Er lehnte zwar die Welt (wie sie war, wozu die Herrschenden sie gemacht haben) ab, trotzdem sehnte er sich unaufhörlich, sich an der Macht zu beteiligen, um die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu verbessern. Wie es auch in seinen politischen Gedichten bezeugt wird, befürwortete er gerne das harte Eingreifen, wenn es um eine von ihm für gerecht gehaltene Sache ging. Aber wenn es dazu gekommen wäre, mitzumachen, wo man hart durchgreift, wäre es ihm nicht unbedingt zumute gewesen, dabei zu sein. Denn er soll zweiffellos gefühlt haben, daß auch eine (vermeintlich) gerechte Sache mit dem gleichen Mittel erkämpft werden muß, womit die ungerechte Sache von der gegnerischen Seite erreicht wird.

Natürlich ist zu berücksichtigen, daß er - abgesehen von kurzen Zeitabschnitten, die er im Amt in Chang'an bzw. mit Reisen verbrachte - sein ganzes Leben unter verschiedenen Militärgouverneuren gedient hat. Ihm soll die Schlechtigkeit und Niederträchtigkeit, sogar die Grausamkeit der Politik und Politiker zweiffellos bewußt gewesen sein. Wie hätte er denn, der sich widersetzte, einen von ihm für unschuldig gehalteten Häftling dem Tod zu überlassen, die Kriterien eines Staatsbeamten erfüllen können? Seine moralischen Eigenschaften hätten ihn geeignet und fähig gemacht, ein guter Staatsmann in einer idealisierten Welt, wo "Phönixe auf dem Altan nisten", zu werden - aber genau dieselbe Eigenschaften schlossen im vorherein aus, daß er in der politischen Welt, wo "Eulen im Schulhain hausen", auf etwas bringen konnte. Er hatte einen Charakter, der - mit seinen eben erörterten Widersprüchen - ihm den gesellschaftlichen Aufstieg verhinderte; einen Charakter, dessen Fehlen (in allen Zeiten und auf allen Orten der Erde) eine Voraussetzung war, in der Gesellschaft zur Geltung zu kommen, die Macht zu erlangen und (gleichgültig auf welcher Ebene) sie auszuüben, oder wenigstens geeignetes Werkzeug in der Hand der Machthaber zu sein.

Dieser Charakter kann Schuld sein, daß er gerade die Tochter des "Fraktionsgegners" Wang Maoyuan geheiratet hat. LSY hätte nämlich nach der Mißachtung seitens Wang im Frühling 837 sicher nicht ein Jahr gewartet, um gerade "diese Frau" zu heiraten, wenn er nicht so gewesen wäre wie er war. Die Eheschließung muß also mit seiner Erfolglosigkeit parallel, und nicht als deren Ursache betrachtet werden. Auch seine Heirat war eindeutig eine Folge von dem, was sich als die eigentliche Ursache seiner Erfolglosigkeit erwies. Es ist ziemlich sicher, daß er auch ohne diese Heirat die Erfolglosigkeit hätte nicht vermeiden können.