Li Shangyins politische Ansichten


In seiner politischen Anschauung finden sich in den Fragen
     1) der Macht und ihrer Ausübung,
     2) der Einheit des Staates (fanzhen, Gefahr von Außen)
     3) und des Eunuchtums
viele Gemeinsamkeiten mit den Ansichten der Fraktion von Li Deyu.

In seinen Gedichten spricht sich LSY deutlich für die Eindämmung der Macht der fanzhen und die Zentralisierung des Staates aus. Er sieht im Eunuchtum die Wurzel des Unheils und verlangt dessen Beseitigung. Er legt die lähmende Haltung derjenigen ab, die die Lösung im Befolgen klassischer Ideale suchen wollen. Gelehrten, die auf konkrete Handlung die Regierung aufgerufen und aufgefordert haben (wie einst Han Yu und dann Liu Fen) haben bei ihm hohe Wertstellung. Wenn er die Dynastie in Gefahr sieht, zögert er nicht, in seinen Gedichten die Anwendung des militärischen Mittels zu begrüssen bzw. zu verlangen. Schon im Jahr 829 bemängelte er, daß der Regierung gegen Li Tongjie keine starke und disziplinierte Armee zur Verfügung stand.

1. Unwürdige besässen die Macht, die Talentierten wären von ihnen mit Füssen getreten, ihr Ehrgeiz wie Bambussprossen abgeschnitten, klagt er im Jahr 834 nach seinem ersten mißlungenen Versuch, das Examen abzulegen. Die Machhaber seien Eulen, die ihn von der Macht unbedingt fernhalten wollen, schreibt er 838, nachdem sein schon bestandenes Examen durch einen Beamten im Kaiserlichen Sekretariat annuliert wurde. Bereits im Jahr 829 spicht er über die Eulen, unfähigen und verdorbenen Machtinhaber, welche dem Phönix, Symbol der guten Regierung gegenübergestellt werden:
     "Ich wünschte nur, daß der Phönix auf dem Altan nistet.
     Wie könnte es dann möglich sein, daß Eulen im Schulhain hausen?"
Der Phönix galt gewiß in jeden Zeiten als "Mangelware" auf der Mauer der kaiserlichen Residenz: dieser Umstand brachte seit eh und je dem Reich viel Unglück; und das Los derjenigen, die das Unheil irgendwie heilen wollten, war hart und bitter. LSYs tief verehrter Lehrmeister und Freund, Liu Fen, mußte sich ebenfalls aus diesem Grunde in Verbannung begeben:
"Begegnet in der Ferne, haben wir uns gefreut und dann wieder geweint. 
Das Phönixnest ist von uns aus westlich gesehen durch ein neunfaches Tor getrennt."
Der Phönix ist ein Zeichen, daß die Regierenden ihre Pflichten den Untertanen gegenüber restlos erfüllen. Erst wenn dies der Fall ist, dringt die Gnade des Kaisers durch die Welt, herrscht Frieden und bleibt die Not unbekannt. Wenn aber die Pflichten vernachlässigt bleiben, werden Zustände geschaffen, die Aufstände auslösen, welche dann mit Waffengewalt unterdrückt werden müssen. Generationen von Kaisern waren unfähig, die Rebellion der drei Wu zu bekämpfen. Das grösste Unheil bestand aber nicht darin, daß die Waffengewalt nicht ausreichend war, sondern darin, daß die Kaiser durch falsche Politik die Voraussetzungen für das Entstehen von Krisen geschaffen haben, in denen sie dann gezwungen wurden, statt durch Tugend und Gnade mit Waffengewalt das Reich zu beherrschen. "Mißtrauen und Zweifel - welche Seite war es, die diese erst entstehen ließ?" (Huaiyanglu). LSY weist hier die Schuld (auch wenn nur indirekt) den Regierenden zu. Denn er hat erkannt: das Ideal, daß die Herrschenden ihre Macht beispielhaft ausüben und ihre Pflichten durch weises Regieren bis zum Äußersten erfüllen müssen (um auch die äußerste Ergebenheit gegenüber der zentralen Macht verlangen zu können), blieb seit den Zeiten der mythischen Yao, Shun und Yu bis zur Zeit der Tang ein leeres Ideal; er hatte auch gar keinen Grund daran zu glauben, daß dieses Ideal in der Zukunft einmal verwirklicht wird. In dieser Hinsicht waren seine Vorstellungen sehr realistisch; und gerade auf diese realistische Einstellung geht zurück, warum er in einigen Gedichten die Anwendung des militärischen Mittels als einzige Lösung für die politischen Problemen sieht. In den Schlußversen des Gedichts Zengbie qian Yuzhou Qibi shijun (842) werden seine politischen Vorstellungen dadurch als gut charakterisiert, daß er in Qibi Tong, und gewiß nicht nur in ihm, gerne einen zweiten Zhi Du, einen echten Jagdfalke sehen wollte, der eine konsequente Linie vertritt und sich um deren Umsetzung bemüht.

2. In der Frage der Militärgouvernements (fanzhen) besitzt er eine kompromißlose Haltung: er sieht deutlich, daß die Zersplitterung des Staates den Fortbestand der Dynastie gefährdet. In dieser Auswahl stellen vier Gedichte seine Ansichten bezüglich dieses Problems dar:
Die Gedichte Suishi dong und Huaiyanglu childern die Folgen der Aufstände und deren Niederwerfung, aber sie weisen auch auf die Ursachen hin.
Im Gedicht Shouan gongzhu chujiang (837) hält LSY die friedliche Lösung (= Bestechung des Rebellen Wang Yuankui mit der Hand einer kaiserlichen Prinzessin) schädlicher als das militärische Eingreifen.
Im Xingci Zhaoyingxian daoshang song Hubu Li langzhong chong Zhaoyi gongtao (844) fand Li Deyus Entscheidung, gegen Liu Zhen gewaltsam vorzugehen, bei ihm auf vollkommene Zustimmung. In welchem Grad für ihn die Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus Tang (dem er sich als entfernter Verwandte zugehörig fühlte) wichtig war, wird erst deutlich, wenn man dieses Gedicht mit dem Gedicht Chong you gan (836) vergleicht. Im Chong you gan wird Liu Zhens Vater, Liu Congjian fast gelobt, da er wenigstens Zeichen gegeben hatte, in Chang'an einmarschieren zu wollen, um sich an den Eunuchen nach dem Süßen-Tau-Zwischenfall zu rächen; aber acht Jahre später wird der Sohn schon verdammt, da er gegen die Zentralmacht zu rebellieren versucht.

Bemerkenswert ist, wie mutig und ohne Umschweife LSY sich in seinen politischen Gedichten äußert. Wie schon erwähnt, kommt er z.B. im Huaiyanglu ganz ohne Anspielungen aus. Wenn er überhaupt Anspielungen verwendet, dienen diese (im Gegensatz zu seinen Liebesgedichten) nicht zur Verheimlichung des Themas, sondern haben sie die Rolle, die Aussage noch klarer und deutlicher darzustellen.

3. Zuletzt muß noch LSYs Verhältnis zum Eunuchtum erwähnt werden. Denn es waren nicht nur die Angehörigen der Fraktionen (Franke: "konfuzianische Literaten mit hoher Auszeichnung"), die im politischen Leben als Machtfaktor galten; es gab dort noch die Eunuchen (Franke: "verachtete Palast-Parasiten"), die sich besonders ab 835 bedeutende Macht aneignet hatten.
LSY bezeichnet die Eunuchen im Vers 6 des Gedichtes You gan ershou, qi er mit dem Wort xiongtu 凶徒. Die von ihnen drohende Gefahr empfindet er viel grösser als die Bedrohung durch die Fraktionskämpfe oder die abtrünnigen Militärgouverneue. Die Mitglieder der Fraktionen trachteten nämlich nicht nach dem Leben ihrer Gegner, und der Hof konnte immer noch (im schlimmsten Fall militärisch) der Macht der fanzhen Einhalt gebieten. Die grösste Gefahr sah LSY daher in den mörderischen Machenschaften der Eunuchen, worüber er seine Ansichten - abweichend von anderen Dichtern - auch zu äußern wagte. Kurz nach dem Süßen-Tau-Zwischenfall schreibt er am Ende 836 das Gedicht Chong you gan, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck gibt, daß Liu Congjian, Gouverneur in der militärischen Region Zhaoyi für die mehreren hundert (oder tausend?) Opfer, die von den Eunuchen massakriert wurden, mit seinen Truppen gerechte Rache nimmt. Die Paraphrase des Kinnpaares lautet wie folgt:

Liu Congjian hat inzwischen auch schon seine Bereitschaft erklärt, dem Kaiser zur Hilfe zu eilen, wie einst Dou Rong es getan hatte.
Seine Armee hätte inzwischen in Chang'an einmarschieren und dort stationieren sollen, wie damals die von Tao Kan in Shitou.

Der Angriff aber blieb aus, ohne daß das Massaker mit einem weiteren Massaker vergolten gewesen wäre.
Liu Fen wollte im Jahr 828 als erster auf die Gefahr seitens der Eunuchen aufmerksam machen. Ihm widmete LSY im Jahr 841 das Gedicht Zeng Liu sihu Fen und beklagte seinen Tod nach einem Jahr in vier Gedichten (davon ein ist das Ku Liu sihu Fen).
Liu Fens "alle Worte bezogen sich auf den Wiederaufschwung des Reiches" (Ku Liu sihu Fen, Vers 2:), trotzdem war Liu Fen gezwungen, sein ganzes Leben auf dem Land zu verbringen, da es für ihn an dem von Eunuchen kontrollierten Kaiserhof keinen Platz gab.
Es ist kein Zufall, daß LSY sich gerade Liu Fen so tief zugezogen fühlte. Denn es erging ihm - aus ähnlichen Gründen wie seinem Freund - auch nicht besser, bevor er Liu Fen kennengelernt hatte. Und es erging ihm nach Liu Fens Tod ebenfalls nicht besser, als es Liu ergangen wäre, wenn er hätte weiterleben können.

LSYs folgende zwei Gedichte sind auch in der Übersetzung von Erwin von Zach zu lesen:
- QTS.6245: Xingci xijiao zuo yibai yun "Auf meiner Reise erreiche ich die westliche Vorstadt von Chang'an"
- QTS.6153(16): Han bei "Die von Han Yu verfasste Inschrift".
Sei es mir erlaubt, auf dieser Stelle aus diesen Werken Abschnitte in Zachs hervorragender Übersetzung zu zitieren.*
Das Gedicht Xingci xijiao zuo yibai yun schrieb LSY unterwegs aus Xingyuan nach Chang'an am Ende des Jahres 837. Hierin wird das Gesehene und das Erfahrene unter der Landbevölkerung, unweit der Hauptstadt geschildert. In den Mund eines Dorfbewohners gegeben wird die Geschichte des Landes erzählt, angefangen mit der Regierungszeit von Kaiser Xuanzong (712-756): Entstehung der fanzhen, An Lushans Aufstand und Gebietsverluste; Ohnmacht des Hofes, Chaos im Reich, Elend und Not auf dem Land...

"Erst zur Zeit der mittleren K'ai-yüan-Jahre (etwa 730 n. Chr.) versuchten schlechte Staatsdiener den kaiserlichen Verfügungen zuwiderzuhandeln. (Verse 35-36)
Li Lin-fu sah mit Missgunst auf jene Beförderung tüchtiger Gouverneure. (37)
So ließ er... rücksichtslose Militärs (an Stelle konfuzianischer Gelehrten) das friedliche Volk regieren. (39-40)
Das Mittelreich hatte darauf viel Ungemach durchzumachen... (41)
Die kaiserlichen Sprösslinge wurden nicht mehr großgezogen, sondern ausgesetzt, während z.B. die kaiserliche Nebenfrau Yang Kuei-fei einen Barbaren (An-lu-shan) zu ihrem Adoptivsohn machte. (47-48)
Da kamen plötzlich wilde Räuber aus dem Nordosten heran, mit einer Schnelligkeit wie wenn der Himmel einstürzen würde. (75-76)
In dieser Zeit des Aufruhrs suchte einer den anderen auszuspähen; wer hätte da zwischen der bösen Eule und dem guten Phönix unterscheiden wollen? (101-102)
Die Städte lagen verödet und in ihnen starben Spatzen und Ratten vor Hunger; die Menschen waren geflüchtet und Wölfe heulten in den Strassen. (105-106.)
... Im Westen gingen die Gebiete am Oberlauf des Huangho an die Turfan verloren. (108)
Verschiedene T'ang-Kaiser... hatten die Zustände toleriert und konnten sie nicht überwinden. (115-116)
Die Ratgeber der Kaiser standen tatenlos mit gefalteten Händen da; einer warnte den anderen, dem Kaiser Vorschläge zu unterbreiten, so dass keiner es wagte voranzugehen. (117-118)
Mitten in diesem Chaos stifteten die Provinzialgouverneure Unruhen und gebrauchten in aufrührerischer Weise ihre Waffen gegen den Kaiser. (131-132)
Der Kaiser... ernannte Rebellen zu wirklichen Gouverneuren und verlieh ihnen hohe Würden. (133-134)
Es gab Gouverneure, die... ihre Macht an ihre Kinder übertrugen. (136)
... Sie gehörten nur noch dem Namen nach zu China, wie etwa barbarische Völker (jenseits der Grenzen). (138)
Das Elend dauert jetzt schon einige Dutzend Jahre, und niemand wagt das Übel mit der Wurzel auszureissen. (145-146)
Selbst am hellichten Tage zeigen sich Räuber; frägt man, wer sie seien, so heißt es, verarmtes Volk, durch die Not dazu gezwungen." (171-172)

Die erschütternde Beschreibung endet mit dem verzweifelten Aufruf des Dichters:
Ich habe gehört, "dass Ordnung oder Unruhe im Reiche von den Menschen abhänge und nicht von Gott (es ist Schuld, nicht Schicksal). Jetzt möchte ich wegen all' dieses Unglücks offen mein Herz vor dem Herrscher ausschütten.
Ich möchte vor ihm mein Haupt gegen den Grund schlagen, bis frisches Blut aus der Stirne spritzt und in Strömen den Thron besudelt. Leider ist der Kaiserhof gleichsam durch dunkle Wolken von mir getrennt, und meine Tränen fliessen umsonst über meine Lippen." (Verse 189-196)

Das Gedicht Han bei soll zwischen 836 und 847/48 verfaßt gewesen sein. Eine genaue Datierung ist nicht möglich, u.a. weil das Gedicht eine frühere Angelegenheit aus dem Jahr 817 behandelt.
Im Jahr 817 entschied sich der Hof endlich für einen Feldzug gegen den schon seit Jahrzehnten de facto unabhängigen fanzhen am Oberlauf des Huai-Flusses (im Südosten von Henan), wo seit 814 Wu Yuanji Militärgouverneur war. Der Kanzler Pei Du nahm im Herbst als Oberbefehlshaber persönlich an dem Feldzug teil, der mit einem raschen Sieg endete. Der Kaiser Xianzong beauftragte kurz darauf Han Yu, eine Inschrift zu diesem Sieg zu verfassen.

"Als der Kaiser Hsien-tsung den Thron bestieg, überblickte er die Lage des Reiches und war von tiefem Kummer erfüllt...", schrieb Han Yu. "Zahlreiche Würdenträger rieten in Eingaben dem Kaiser, er möge lieber durch Milde und Gnade die Rebellen zur Unterwerfung bringen. Der Kaiser wollte auf diese Bitte nicht hören und... liess die himmlische Strafe auf die Rebellen niederkommen... Das darauf erlassene Edikt des Kaisers liess der Minister P'ei Tu verkündigen: nur die Rädelsführer sollten bestraft, die Untergebenen sollten begnadigt werden... Der Hungersnot in Ts'ai wurde durch Verschiffung und Verteilung von Getreide abgeholfen... Es wurden Beamte eingesetzt und die Bewohner mit Rindern beschenkt; man liess sie belehren und zog keine Steuern ein. Die Leute von Ts'ai sagten: ... Der Himmelssohn ist ein erleuchteter Weiser. Wenn man ihm nicht gehorcht, rottet er uns und unsere Familien aus; gehorcht man ihm aber, beschützt er unser Leben..."
"Als in Huai und Ts'ai Unruhen ausbrachen, hat der Himmelssohn sie unterdrückt. Und als nach der Unterdrückung eine Hungersnot wütete, hat der Himmelssohn Abhilfe geschaffen. Als man darüber beriet, ob man Ts'ai mit Krieg überziehen sollte, waren die höchsten Würdenträger dagegen...
Dass keine (vorzeitige) Amnestie erteilt und zu einem entschlossenen Vorgehen übergegangen wurde, ist der Weisheit des Himmelssohnes zu verdanken...", faßt Han Yu am Ende der Schrift die Aussage zusammen.
Aber Pei Dus Widersacher am Hof haben "Han Yü beim Kaiser verleumdet und als parteiisch hingestellt" (Han bei, Vers 38), worauf der Gedenkstein niedergerissen und die Inschrift mit grobem Sand weggelöscht wurde (39-40). Es wurde dann einem anderen Gelehrten namens Duan Wenchang befohlen, den Text der Inschrift neu zu formulieren.
LSY äußert sich noch Jahrzehnte danach entrüstet im letzten Abschnitt des Han bei über das Geschehen; und jedes seiner Worte ist ein klares politische Bekenntnis:
"Ach, eines erlauchten Herrschers und weisen Ministers
Gemeinsamer Ruhm hätte in dieser Inschrift der Nachwelt verkündet werden sollen. (Verse 45-46)
... Unzählige Male möchte ich jene Inschrift abschreiben und unzählige Male sie laut lesen,
Bis mir Schaum vor dem Munde steht und meine Rechte Schwielen bedecken.
Ich möchte diese Inschrift den in kostbaren Truhen verwahrten Berichten der 72 Geschlechter über ihre Opferhandlungen anreihen
Als Gegenstand der Verehrung und als Grundlage der Regierung." (49-52)

 

*Zitate:

Erwin von Zach: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan. Harvard-Yenching Institute Studies XVIII. Harvard UP. 1958.