Als der Gott Izanagi und die Göttin Izanami auf einem Regenbogen von Himmel niederstiegen, um die Erde vom
Meer zu trennen, schlug Izanagi mit seiner Lanze auf das Meer. Und von den Wassertropfen, die von seiner Lanze hinunterfielen, entstand die japanische Inselkette.
Diese Inselkette ist eine lange Reihe von hohen Bergen, die wie eine Karawane in der Wüste der Ozeans
aussieht. “Weg der Berge”, wird der uralte Landesname Japans “Yamato” auch gedeutet.
Die Ahnen der Japaner betrachteten die Berge als Zwischenstation zwischen der Erde und des Himmels. Die
Berge sind heilige Orte, wo die Götter wohnen, wo die Geister der Gestorbenen weiterexistieren werden.
Die Menschen betrachteten die Berge als Verkörperung der göttlichen Macht. Diese Macht schlummert in der
Tiefe der Erde, aber sie bricht oft als Feuer und Donner heraus.
Die Japaner verehren Izanagi und Izanami, aber nicht nur weil sie die japanischen Inseln erschaffen haben,
sondern auch weil sie ihre Tochter, die Sonnengöttin Amaterasu, zur Welt gebracht haben. Der Kult von Amaterasu bildet die Grundlage der Naturverehrung.
Die Verehrung und die Vergöttlichung der Natur – das ist der Shintoismus, eine uralte Religion der Japaner.
Der Shintoismus lehrt, dass alles in der Welt eine Seele besitzt, daher heilig ist. Heilig ist der Feuer spukende Berg, die im Sumpf blühende Lotusblüte, der Regenbogen nach dem Gewitter. Und
Amaterasu, die Leben schenkende Sonnengöttin, ist der Haupt dieser acht Millionen Gottheiten, die auf Japanisch kami heißen.
Vor jedem Shinto-Heiligtum steht ein torii, ein Torbogen mit zwei Querbalken. Torii bedeutet
“Hühnerbalken”. Es gibt eine Legende darüber, warum es vor den Shinto-Schreinen steht. Die Legende erzählt, dass Amaterasu einmal mit ihrem Bruder Streit hatte und sich in einer Höhle versteckte.
Die Welt wurde plötzlich dunkel. Niemand konnte die Sonnengöttin dazu bringen, herauszukommen. Dann stellte man einen Hühnerbalken vor die Höhle und setzte einen Hahn darauf. Neben den Hahn
stellte man einen Spiegel. Als der Hahn zu schreien anfing, schaute Amaterasu neugierig hinaus. Sie sah im Spiegel ihr Spiegelbild, wovon sie dachte, es sei eine unbekannte Schönheit. Das störte
ihre Eitelkeit, deshalb ging sie heraus, um zu sehen, wer diese Schönheit ist. In der Welt wurde sofort wieder hell und das Leben ging weiter auf seinen Weg... Man sagt, dass die Sonne seitdem
auf Hahnenschrei aufgeht.
Die Shinto-Religion als Vergöttlichung der Natur, Kult der achtmillionen Gottheiten, besitzt keine
Morallehre, spricht nicht von den Normen des richtigen Benehmens und warnt nicht von der Sünde. Deshalb kann sie nicht als solche Religion betrachtet werden, wie der Christentum, der Buddhismus
und der Islam ist.
Die Japaner verehren die Natur nicht deshalb, weil sie sich vor der Natur fürchten. Zwar zeigt die Natur in
Japan oft ihr furchtbares Gesicht (Taifune, Erdbeben), in der Naturverehrung zeigt sich eher die Dankbarkeit der Menschen: denn die Natur ist – trotz der verursachten Zerstörungen und Leiden –
oft sehr lieb und schön.
Diese Weltauffassung hat in den Japanern die Empfindlichkeit der Natur gegenüber ausgeformt, ihre
Fähigkeit, dass sie sich für die Mannigfaltigkeit der Natur freuen können.
Seit dem 6. Jh. verbreitete sich auch der Buddhismus in Japan, beeinflußte die Entwicklung der Künste,
die Ästhetik und das Schönheitsideal immer tiefer.
Der Buddhismus entstand im 6. Jh. v.Chr. in Indien. Der Gründer war der Prinz Siddharta Gautama, der
Zeitgenosse von Konfuzius war. Wie die meisten großen Lehrer im Altertum, verbreitete auch Buddha seine Lehre als wandernder Philosoph.
Diese Lehre besagt, dass die ganze Existenz nichts als Leiden ist. Der Grund des Leidens ist, dass wir
unerfüllte Wünsche haben, die nicht zu befriedigen sind. Diese Wünsche, Sehnsüchte und Begierden verschwinden auch nicht mit dem Tod. Denn der Mensch wird wiedergeboren und wieder fängt von neuem
an.
Aber es gibt einen Ausweg: Wir müssen unsere Sehnsüchte und Wünsche loswerden, einen Zustand
erreichen, wo es nichts mehr verlangen. Es ist der Zustand des Erlöschens, das Nirvana, wo wir nicht mehr wiedergeboren werden.
Um in diesen Zustand gelangen zu können, müssen wir die vier Wahrheiten in unserem Herzen verstehen.
Diese sind:
1) das
Leben is leidvoll
2) Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und
Verblendung
3) wenn die Ursachen verschwinden, erlöscht auch das
Leiden
4) zu Erlöschen der Ursachen führt der achtfache
Pfad:
wir müssen unsere Sicht, Entschlossenheit, Reden, Handeln,
Lebensunterhalt, Bemühen, Achtsamkeit, Konzentration
gerecht
machen.
Im 3. Jh. v.Chr. regierte in Indien der Kaiser Asóka (270-230). Vom blutdürstigen Feldherr verwandelte er
sich zu einem glühenden Unterstützer des Buddhismus, der sich dann in und außerhalb Indiens rasch verbreitete.
In China gelang es im 1. Jh, während der Han-Dynastie. Im Jahr 68 kamen aus Indien zwei Mönche in die chinesische Hauptstadt Luoyang. Sie führten zwei weiße Pferde mit, die mit Sutren und Buddhastatuen beladen waren. Sie gründeten den ersten buddhistischen Tempel in China. Der Tempel hieß Baimasi (Tempel zu den zwei Pferden). Es steht immer noch, aber vor seinem Tor stehen jetzt zwei Drachen.
Der Buddhismus brauchte von Indien nach China 500 Jahre. Nach Japan brauchte er ebenso viel. Laut japanischer Geschichtsannalen Nihongi, schickte der koreanische König im Jahr 552 Sutren und Buddhastatuen dem Kaiser von Japan. Dieses Jahr steht für die offizielle Übernahme des Buddhismus in Japan
Es bedeutet natürlich noch nicht, dass es keine Buddhisten davor in Japan gab. Im Jahre 522 wanderte ein Chinese namens Sima Dadeng (Shiba Tatto) nach Japan ein. Er baute eine Grashütte, dort stellte er eine Buddhastatue hin, von der er betete. Man könnte sagen, dass diese Hütte der erste buddhistische Tempel in Japan war. Jedenfalls war Shiba Tatto der erste bekannte Buddhist in Japan. Seine Tochter wurde zur ersten Nonne, sein Sohn zum ersten Mönch. Sein Enkel wurde zu Bildhauer. Er hieß Kuratsukuri no Tori. Auf dem Bild sehen wir sein Hauptwerk, eine Buddha-Trinität, die bis heute in der Haupthalle des Tempels Hōryūji steht.
Die einfachen Menschen in Japan verstanden die komplizitierte Lehre Buddhas kaum.
Sie begriffen nur so viel davon, dass es die Veränderungen nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Dasein möglich sind. So breitete der Buddhismus die Unbeständigkeitsvorstellungen
der Japaner auch auf die Bereiche der menschlichen Existenz aus.
Wie können wir von Gier, Hass und Verblendung frei werden und auf dem achtfachen Pfad zu Nirvana
gelangen?
1. wir müssen unsere Taten und Gedanken
beobachten,
uns
kontrollieren
2. wir müssen auch die
Natur in ihren Veränderungen
beobachten
3. wir müssen den
Einklang zwischen der Natur und uns finden.
Die Existenz ist nicht identisch mit der Vollendung. Die Existenz ist für die Vervollkommnung. Das Ziel
ist die Vollendung, das heißt, das Erlöschen. Aber der Mensch kann das nicht mehr erleben. So findet man im Leben nirgendwo Vollendung.
Zusammenfassung:
Während die chinesischen Künstler in ihren Werken nach Lebensechtheit strebten, betrachteten die
japanischen Künstler dies eher als nebensächlich. Sie meinten: „Wir wollen unseren Willen nicht auf das Material zwingen. Wir wollen nur dem Material helfen, dass es seine Schönheit noch mehr
offenbart.“
Der chinesische Künstler vernichtet und neu schafft. Der
japanische Künstler versucht dagegen, mit dem Material in Einklang und Harmonie zu bleiben.
Die Japaner schätzen die Natürlichkeit über alles. Das Verhältnis zwischen des Materials und des
Künstlers ist wie das Verhältnis zwischen eines Herren und seines Dieners.
Die Rolle des Künstlers ist unvereinbar damit, dass er seine Absicht mit Gewalt dem Material gegenüber
durchsetzt. Er soll dem Material helfen, dass es zu sprechen anfängt und die Gefühle des zum Leben erwachten Materials erzählt. Der Keramiker lernt vom Ton und Lehm, der Kalligraph von der Tusche
und vom Papier. Bereits beim Auswählen sucht der Künstler nur solches Material, mit dem er Einklang findet. „Wenn das Material sich von mir anwendet, spreche ich es nicht an. Nur dann berühre ich
es, wenn wir uns verstehen.“
Das Verhältnis des japanischen Künstlers zu seinem Objekt nennt man auf Japanisch
wabi - Entschuldigung.
Einfachheit ist auch eine wichtige Voraussetzung des künstlerischen Schaffens. Statt ausgedehnte
Wälder wird lieber nur ein Baumzweig gemalt. Mit einer Blume kann man einen großen Blumengarten andeuten.
Am Ende des 16. Jhs. geschah die folgende Anekdote. Der Genaral Hideyoshi hörte, dass der berühmte
Teezeremoniemeister Rikyu einen wunderschönen Blumengarten besaß. Er schickte einen Boten zu ihm, dass er auf seine Ankunft vorbereiten soll. Rikyu hat sich vorbereitet: er zog alle Blumen heraus
und warf sie zum Müll, bis zu einer Blume. Er stellte diese Blume in senem Zimmer als Ikebana aus. Der General war wütend. Woher hätte er gewußt, dass der Meister alle Schönheiten seines Gartens
in dieser kleinen Blume konzentrierte?
Neben der Natürlichkeit und der Einfachheit dürfen wir auch das Praktische nicht vergessen, das
ebenfalls für das Alltagsleben der Japaner typisch ist. Es genügt, wenn wir auf das Innere einer japanischen Wohnung einen Blick werfen.
Ein Bambusstab ist schön, wenn er die ursprüngliche Schönheit des Bambusses bewahrt, und auch die
guten Eigenschaften des Bambusses besitzt.
Ein Schwert ist auch schön, wenn in ihm sich die Schönheit des Stahls offenbart, und wenn seine Klinge
scharf und stark ist.
An einer Teetasse muß zu sehen sein, dass sie von menschlicher Hand formiert
und aus Lehm gebrannt wurde. Ihre Form muß einfach sein. Wir trinken ja das einfachste Getränk von ihr: den Tee.
Ein Gegenstand ist schön, wenn in seinem Material die
Natürlichkeit, in seiner Ausarbeitung die Einfachheit zu sehen ist.
Das gilt auch für die Architektur. Die Gebäuden sind aus Holz, sie müssen in die
Landschaft maximal hineinpassen.
Man baut gerne neben Wasser, um die Schönheit der Gebäuden durch das Wasser, die Schönheit des Wassers
durch die Gebäuden hervorzuheben.
Der japanische Gartenkunst ist einzigartig in der Welt. Neben Felsen und Sand verwendet man gerne auch
Moos, um die Spur der Zeit auszudrücken. Die Spur der Zeit ist sabi auf Japanisch. Es bedeutet: Patina. Es ist die Schönheit, die in sich ruht.
Und nicht zuletzt ist auch die Schönheit der Verschwiegenheit sehr wichtig. Es gilt als schön, wenn
der Künstler seine Gedanken nicht in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck bringt.
Der Zen-Tempel Ryoanji, der Philosophengarten in Kyoto. Vor 450 Jahren wurde es von einem Meister namens Soami geschaffen. In 5 Gruppen stehen hier 15 Steine von verschiedener Größe. Egal von welcher Richtung wir sie betrachten, ein Stein bleibt immer verdeckt. Was wollte der Meister ausdrücken?
Die Ewigkeit der Welt in ihrer ständigen Mannigfaltigkeit?